Hermeneutische Visualisierungen für die Literaturwissenschaft - Rabea Kleymann, Jan-Erik Stange - Universität Hamburg
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Hermeneutische Visualisierungen für die Literaturwissenschaft
Aktivitäten wie das Annotieren, Vergleichen und Repräsentieren sind essentieller Bestandteil interpretativer Prozesse in der Literaturwissenschaft. Auch wenn viele digitale Applikationen diese Aktivitäten erlauben, so ermöglichen sie doch in der Regel nicht das Entstehen interpretativer und im speziellen hermeneutischer Arbeitsabläufe im Digitalen. Warum ist das so?
In unserer Forschung argumentieren wir, dass das Problem in der Missachtung der Prämissen hermeneutischer Theorie liegt und dass digitale Applikationen diesen Prämissen gerecht werden sollten, um hermeneutische Interpretationsprozesse zu ermöglichen.
Datenvisualisierung kann hier eine Schlüsselrolle einnehmen, indem sie interpretierende Tätigkeiten unterstützt und neue Perspektiven auf die Daten bzw. Annotationen zulässt, die weit über die Möglichkeiten des Analogen hinausgehen. Als Richtlinien haben wir vier Prinzipien zur Gestaltung solcher Werkzeuge entwickelt, die in unserem Artikel Towards Hermeneutic Visualization in Digital Literary Studies (unter Begutachtung; eingereicht bei Digital Humanities Quarterly im Oktober 2018) beschrieben werden.
Um die Anwendung der Prinzipien exemplarisch zu demonstrieren, haben wir den interaktiven Prototypen Stereoscope entwickelt, der von interessierten Literaturwissenschaftlern (auch mit eigenen Annotationsdaten) ausprobiert werden kann. Weitere Informationen dazu finden sich hier: http://www.stereoscope.threedh.net/index_de.html.
--- Digitale Medien und Technologien sind heutzutage ein selbstverständlicher Bestandteil unserer privaten wie beruflichen Alltagspraxis. Allerdings bleiben wir dabei in den meisten Fällen bloße ‚User‘, das heißt: Anwender von Geräten (Smartphones, Tablets, Notebooks etc.) und Nutzer von Informationsinfrastrukturen (Internet, Datenbanken, Social Media). Wir verwenden Vorhandenes je nach Bedarf und Funktionalität - aber was eigentlich unsere Bedarfe sind und welche Funktionen wir jeweils benötigen, darüber haben zuvor bereits die Systementwickler und Ingenieure entschieden, die uns bei unserer Praxis beobachtet haben. Zumeist ist das, was dabei dann am Ende herauskommt, eigentlich nur eine Emulation – eine Nachbildung – traditioneller Verfahrensweisen: alter Wein in neuen Schläuchen. Dafür allerdings hip und in HD!
Auf analoge Weise hat sich während der letzten 20 Jahre auch im Alltag der Geisteswissenschaften die Nutzung digitaler Medien und Technologien etabliert: selten zielgerichtet und als eine bewusst geplante methodische Innovation, sondern eher als eine schrittweise Emulation traditioneller Praxis mit neuen technischen Mitteln. Die Vorlesung wird deshalb zunächst einen Überblick über die digitalen Technologien und Verfahren geben, die heute in unterschiedlichen geisteswissenschaftlichen Disziplinen wie Archäologie, Sprachwissenschaften, Kunstgeschichte, Medienwissenschaften, Literaturwissenschaften, Musikwissenschaften etc. zum Einsatz kommen. Neben dieser Bestandsaufnahme und der Präsentation von Beispielanwendungen soll jedoch vor allen Dingen die Frage nach dem methodologischen und konzeptionellen Zugewinn thematisiert werden, den das neue Methodenparadigma der sog. ‚Digital Humanities‘ birgt oder bergen könnte. Zwei Thesen stehen dabei im Hintergrund: erstens, die Geisteswissenschaften sollten sich das neue Paradigma kritischer und selbstbewusster aneignen – Innovation, nicht Emulation traditioneller Praxis ist gefordert. Zweitens, der eigentlich Effekt des „Einzugs der Maschine in die Geisteswissenschaften“ ist konzeptioneller Natur: digitale Medien und Technologien, wenn sie reflektiert angewandt werden, erlauben uns die Bearbeitung von grundsätzlich neuen Forschungsfragen und eine neue Form des geisteswissenschaftlichen Forschens, die stärker als bisher auf Teamwork und Empirie setzt.