Achtsamkeit und Selbstbezogenheit – eine Kritik aus gesellschaftspolitischer Sicht - Hartmut Rosa - Universität Hamburg
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Achtsamkeit und Selbstbezogenheit – eine Kritik aus gesellschaftspolitischer Sicht
Die moderne Gesellschaft steuert auf ein kollektives Burn-out zu. Die Beschleunigung unseres Lebens bringt keinen Zeitgewinn, sondern weitere Zeitnot. Menschen halten nach immer neuen Konsumgütern und Optionen Ausschau, haben aber keine Erfahrung von Resonanz und Lebendigkeit mehr.
Meist ziehen diese oder ähnliche Feststellungen es nach sich, dass als nächstes die Achtsamkeit als Möglichkeit der Entschleunigung ins Spiel gebracht wird. Der Vortrag untersucht daher in einem ersten Teil, inwiefern Achtsamkeit überhaupt geeignet sein kann, das Beschleunigungsproblem zu lösen — vor allem aber, wo die Grenzen ihrer Möglichkeiten liegen. Denn wenn die Verantwortlichkeit für gelingende Weltbeziehungen allein beim achtsamen Individuum liegt, findet sich der gesellschaftliche Kontext völlig ausgeblendet.
Die Herauslösung aus den sozialen Verhältnissen meint aber gleichzeitig die Nichtbeachtung der gesamtgesellschaftlichen Krisen von Wirtschaft, Demokratie und Ökologie. Erschwerend hinzu kommt die ökonomische Verwertung des Achtsamkeitskonzeptes: Rund um Achtsamkeitspraxtiken wie MBSR haben sich mittlerweile ganze Industriezweige angesiedelt, welche — allen Lippenbekenntnissen ihrer Vertreter zum Trotz — die Zwanghaftigkeit und Destruktivität des Beschleunigungssystems nur noch weiter stützen. Achtsamkeit trägt, so ließe es sich zugespitzt formulieren, zur allgemeinen Entfremdung des Subjekts nicht nur von sich selbst, sondern von der Gesellschaft insgesamt bei.
Doch was könnten Alternativen sein? Wie lässt sich Entfremdung überwinden? Mit Blick auf diese sozialphilosophische Zeitdiagnose versucht der zweite Teil des Vortrags, das Resonanzkonzept als eine mögliche Grundlage und einen Kompass für ein besseres Leben anzubieten und dafür die Sphären der Arbeit, der Liebe, der Kunst und der Natur, aber auch der Religion und der Demokratie auf ihre Resonanzqualitäten hin zu überprüfen.
Prof. Dr. Hartmut Rosa, Professor für Allgemeine und Theoretische Soziologie, Friedrich-Schiller-Universität Jena, Direktor des Max-Weber-Kollegs, Erfurt
Achtsamkeit ist längst zu einem Trend geworden. Der bekannte Trend- und Zukunftsforscher Matthias Horx meint, darin vor allem einen Gegentrend zu Beschleunigung und Effizienz zu erkennen, aber auch zu Wellness und Entspannung.
Besonders durch die Verbreitung des Programms „Stressbewältigung durch Achtsamkeit“ (MBSR) hat Achtsamkeit an Bedeutung gewonnen. Zahlreiche wissenschaftliche Studien haben die Wirksamkeit untersucht; Mediziner, Therapeuten, Pädagogen und mittlerweile auch Wirtschaftsunternehmen interessieren sich dafür. Damit ist eine kritische Reflexion überfällig. Die Vortragsreihe beleuchtet den Achtsamkeitshype aus verschiedenen Perspektiven: Buddhisten kritisieren, dass die heute geläufigen AchtsamkeitsÜbungen auf halbem Wege stecken blieben und die Verbindung sowohl zur Ethik als auch zur Weisheit gekappt hätten. Welche Bedeutungen hat die Achtsamkeit im buddhistischen Kontext? Aus gesellschaftspolitischer Perspektive ist der Vorwurf formuliert worden, Achtsamkeit sei nur auf das Subjekt bezogen und blende gesellschaftliche Kontexte unzulässig aus. Ist Achtsamkeit also bloßer Eskapismus, der Rückzug ins Private? Und wie ist es ethisch zu bewerten, wenn Firmen Achtsamkeit strategisch einsetzen und in den Dienst von Effizienz und Leistung stellen?
Ein weiteres Thema ist, welche Qualität die vielen Studien haben, mit denen Wirksamkeit von Achtsamkeit belegt werden soll. Wie aussagekräftig sind ihre Ergebnisse? Ist Achtsamkeit tatsächlich ein Allheilmittel für die Krankheiten unserer Zeit? Referenten aus verschiedenen Disziplinen setzen sich mit diesen Fragen auseinander und diskutieren mit dem Publikum.
Der Eintritt ist frei. Alle Interessierten sind herzlich willkommen.
Die Veranstaltung findet als Kooperation zwischen dem Numata Zentrum für Buddhismuskunde und dem Netzwerk ethik heute statt.