Diskursräume der Aushandlung von Wissen und Meinungen im klassischen Athen - Prof. Dr. Werner Rieß, Hans Beck, Christian Mann, Dorothea Rohde, Katarina Nebelin, Martin Dreher, Prof. Dr. Claudia Tiersch - University of Hamburg
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Diskursräume der Aushandlung von Wissen und Meinungen im klassischen Athen
Jede Gesellschaft steht in epistemischer Hinsicht im Spannungsfeld von Wissen und bloßen Meinungen. Individuen wie Gesellschaften oszillieren zwischen diesen beiden Polen und nehmen vielerlei Zwischenpositionen ein, um Orientierungs- und Handlungswissen zu gewinnen.
In der direkten Demokratie Athens kam der Aushandlung von Wissen zentrale Bedeutung zu: Die extreme Aufteilung von Kompetenzen erschwerte die Weitergabe von Wissen. Dennoch war diese Regierungsform zwei Jahrhunderte hinweg recht effektiv, was die Frage nach der Organisation von Wissen aufwirft. In den letzten Jahren haben internationale Forschung (etwa J. Ober, Democracy and Knowledge, Princeton 2008), Nachbardisziplinen (etwa M. Friedrich, Die Geburt des Archivs. Eine Wissensgeschichte, München 2013) sowie der durch die Digitalisierung beschleunigte Wandel unserer Informationsverarbeitung auch die althistorische Forschung auf diesem Gebiet befeuert.
Die Sektion verbindet erstmals in der Alten Geschichte Forschungen zum Wissen mit dem spatial turn: Wo fanden die Aushandlungsprozesse zwischen Meinungen und gesichertem Wissen statt? Für Athen ist eine grundsätzliche Offenheit (physisch wie sozial) von Räumen zu konstatieren, die den freien Meinungsaustausch in einer bis dahin ungekannten Weise beförderte. In diesen Diskursräumen fanden Aushandlungsprozesse statt, denen nachgespürt werden soll, Prozesse, die wir idealtypisch als gesellschaftlich, politisch, juristisch sowie geistig-intellektuell bezeichnen. Selbstverständlich überlappen sich diese Felder der sozialen Praxis. Aus heuristischen Gründen ist die Kategorisierung in verschiedene Praxisfelder jedoch nützlich, erlaubt sie doch die genauere Verortung der in Frage stehenden Aushandlungsprozesse.
Hans Beck, Montréal:
Im Schatten der Pnyx. Die athenische Demokratie und das Wissen der Straße
Die Demokratie Athens zeichnete sich durch ihr hohes Maß an Wissen aus. In der sogenannten open air Kultur der Polis war politische Expertise breit gestreut. Die Beteiligung der Bürger an den Institutionen der Stadt förderte nicht nur den Bildungsstand der Politen, sondern sie zeitigte auch ein beachtliches Erfahrungswissen („nomologisches Wissen“). Neben der Kennerschaft im Inneren wird in jüngster Zeit auch ein breites Wissen der Polisbürger über die griechische Welt insgesamt konstatiert: Je größer die kommunikativen Netzwerke, um so kleiner wurde die Welt der Hellenen. Zu den Charakteristiken dieser Small Greek World (Irad Malkin [2011]) gehörte es, dass die Polisbürger gut über die Lage im übrigen Griechenland Bescheid wussten.
Wieviel wussten die Bürger der Polis aber wirklich über politische Konstellationen andernorts? Forschungen zum Austausch von Nachrichten verweisen durchwegs auf die rudimentäre Infrastruktur, die für den Informationsfluss bestand. Die maßgeblichen Polis-Instrumente waren Proxenien und Gesandtschaften; beide spielten bei der Diskussion um die Ratifizierung von Friedensschlüssen und Verträgen eine wichtige Rolle. Die überlieferten Beispiele solcher Diskussionen legen dennoch nahe, dass die Volksversammlung häufig nur eine begrenzte Kenntnis von den Verhandlungsgegenständen hatte. Die schon von den Zeitgenossen angemahnte Abhängigkeit der Ekklesia von Demagogen und das Gewicht von Gerüchten bei der Entscheidungsfindung sind vor dem Hintergrund einer solchen Uninformiertheit kein Zufall.
Dieser ambivalente Befund von hohem Erfahrungswissen auf der einen Seite und relativer Unkenntnis auf der anderen dient im zweiten Teil meines Vortrages einer genaueren Bestimmung des Wissens, das in der Öffentlichkeit bzw. „auf der Straße“ (Alex Gottesman, Politics and the Street in Democratic Athens [2014]) vorherrschte. Im öffentlichen Raum war der Austausch von Wissen nicht den Bürgern vorbehalten, sondern er bezog alle mit ein (Nicht-Bürger, Fremde, Frauen, Sklaven). Gleichzeitig fand die Formierung von Meinungsbildern in Gruppen und Milieus statt – in Vereinen, Phratrien, Banden –, die einer dezidiert anderen Dynamik folgten als die Institutionen der Stadt. Die Straße war insofern ein Ort, in dem die politischen Hierarchien der Polis zwar nicht aufgehoben, in ihrer Wirkkraft aber eingeschränkt waren. Die Komplexität und auch Komplementarität dieser informellen Wissensräume hatte, wie abschließend gezeigt wird, wiederum Rückwirkungen auf den politischen Prozess in Athen.
Christian Mann, Mannheim:
Der Ruf der Demagogen: Gerüchte als akkumuliertes Wissen und als politische Waffe
Politische Meinungsführer, in den zeitgenössischen Quellen zumeist demagogoi genannt, waren ein unverzichtbares Element der athenischen Demokratie – sie machten die Volksversammlung erst handlungsfähig. Ihre Darstellung in den Quellen ist allerdings von negativen Stereotypen geprägt: Demagogen standen unter Generalverdacht, Politik nur zum eigenen Vorteil und nicht zum Wohl der Polis zu betreiben, schön klingende Worte anstelle von sachlichen Argumenten einzusetzen, wider besseres Wissen schlechte aber populäre Vorschläge zu machen und Ämter zur persönlichen Bereicherung zu nutzen. Aufgrund der schwachen Stellung von Amtsträgern, der scharfen Konkurrenz der Demagogen untereinander und fehlender Parteistrukturen schwebten alle Demagogen ständig in der Gefahr, ostrakisiert oder in einem politischen Prozess verurteilt zu werden.
In den Volksversammlungen konnten die anwesenden Bürger sich ein Bild von den Demagogen machen, sie verfügten damit über ein gesichertes Wissen. Doch die entscheidende Frage, ob ein Demagoge Politik zum eigenen Vorteil oder zum Vorteil der Polis betreibe, konnte auf der Grundlage dieses Wissens nicht beantwortet werden. Große Bedeutung besaßen deshalb die Gerüchte, die man sich in den Häusern und Straßen Athens erzählte: Aischines preist die pheme, die in der Stadt umlief, als akkumuliertes Wissen des Volkes; die pheme zeige den Charakter eines Bürgers an (Gegen Timarchos, 127-129). Die möglichen Ansatzpunkte für Gerüchte sind vielfältig: Sie können auf den ökonomischen Status eines Demagogen bezogen sein, auf seine politischen Vorschläge, aber auch auf sein Erscheinungsbild, d.h. seine Kleidung und Frisur, seine Stimme, seine Bewegungen.
In diesem Kontext stellen sich zwei Fragen, die genauer zu untersuchen sind: Welche Möglichkeiten boten sich Demagogen, Einfluss auf die Gerüchte über sich selbst und über die politischen Gegner zu nehmen? Und welche Zusammenhänge zwischen dem öffentlichen Auftreten von Demagogen und den über sie kursierenden Gerüchten lassen sich erkennen?
Claudia Tiersch, Berlin:
Selbstbeschreibungen der Demokratie in attischen Reden
Obzwar sich die athenische Demokratie insbesondere seit 403 v. Chr. als erstaunlich funktionale politische Ordnung bewährte, die selbst in militärischen und finanziellen Problemlagen ein hohes Maß an Stabilität und Problemlösungskompetenz aufwies, sind die zeitgenössischen politiktheoretischen Entwürfe weitgehend demokratiekritisch. Allerdings ist in der Forschung zunehmend darauf verwiesen worden, daß zumindest die kritischen Bemerkungen der attischen Redner nicht als Ablehnung der Demokratie zu interpretieren seien, sondern vielmehr als mahnender bzw. ermunternder Diskurs mit den Bürgern, sich stärker für den Erhalt der grundsätzlich akzeptierten Ordnung einzusetzen. Genau hier möchte mein Beitrag einsetzen. Er geht von der Grundannahme aus, daß traditionelle normative Vorstellungen der eunomia eher hierarchische Modelle präferierten, daß der lebendige politische Diskurs der athenischen Demokratie aber im Verlauf mehrerer Jahrzehnte eine Fülle an Kategorien und Überlegungen über Wesen, Ziele und Funktionalität der demokratischen Ordnung entwickelte. Die attischen Reden sollen deshalb unter folgenden Fragestellungen analysiert werden: Welche Selbstbeschreibung der
athenischen Demokratie geben die attischen Redner? Worin sehen sie deren Vorzüge bzw. deren Spezifika und die Bedingungen ihres Funktionierens? Wie charakterisieren sie die Bedeutung von Institutionen, die Rollenverteilung zwischen den Bürgern und deren Handlungserfordernisse? Welche Normen nehmen in den Reden eine zentrale Bedeutung ein? Welche Rolle spielt z.B. die Kategorie der Gerechtigkeit, wie wird diese semantisiert? Welches Wissen über die demokratische Ordnung transportieren und verhandeln sie? Wie wird die neue politische Wirklichkeit kategorial verarbeitet? Welche unterschiedlichen Ansätze werden hier bei den jeweiligen Rednern erkennbar? Anliegen des Beitrags ist die Bestimmung von Grundzügen des Wissens über die athenische Demokratie, welches zwar als Expertenwissen, jedoch in diskursiver Aushandlung, in den attischen Rednern erkennbar wird.
Dorothea Rohde, Bielefeld:
Der politische Verrat als Gesinnungsdelikt. Der Vorzug des Glaubens vor dem Wissen
Unter dem Begriff des politischen Verrates lassen sich in klassischer Zeit verschiedene Tatbestände subsumieren. Obwohl eine Verurteilung die Todesstrafe vorsah, wurden die Prozesse in erster Linie auf der Basis von Überzeugungen entschieden. Der Gerichtssaal als Diskursraum der Aushandlung von Wissen und Meinen umfasste dabei drei Dimensionen: Erstens zeichneten sich die Verfahren durch das weitgehende Fehlen von Beweisen aus. An die Stelle von Fakten trat der Versuch, die eigene Version durch die Narration von Ereignissen und Wahrscheinlichkeiten glaubhaft zu machen. Zeugenaussagen dienten dabei nicht allein der Feststellung des rechtserheblichen Sachverhaltes, sondern sie waren ritualisierte Akte der Hilfeleistung. Zweitens zielten die rhetorischen Strategien darauf ab, die eigene Integrität durch den Verweis auf gemeinschaftsrelevante Taten hervorzuheben und den Gegner zu diskreditieren. Die athenischen Richter stimmten daher auch über die vor ihnen stehenden Persönlichkeiten ab. Drittens wurden bei Verratsprozessen die Rechtsnormen situativ durch die „Staatsräson“ ausgefüllt. Was als Verrat galt, beurteilten die Richter aufgrund des diffusen Nützlichkeitskriteriums. Es wurde also vor allem um die Deutungshoheit in politischen Richtungsentscheidungen gestritten.
Gleichwohl wäre es verfehlt, den Primat des Glaubens vor faktenbasiertem Wissen nur als rechtshistorisches Kuriosum abzutun. In Athen dienten Verratsprozesse nicht nur der Auseinandersetzung zwischen Konkurrenten, sondern hier konnten auch Kriterien für ein erwünschtes Verhalten von Politikern formuliert, der Vorrang des Gemeinwohls vor Partikularinteressen eingeimpft, Beschlüsse der Volksversammlung korrigiert und das Verpflichtungsverhältnis der Bürger untereinander durch die Definition von außenpolitischen Feindschaften gestärkt werden. Auf diese Weise fungierte die Verratsanklage in ihren verschiedenen Ausprägungen als ein Mittel der Homogenisierung der politischen Akteure.
Katarina Nebelin, Rostock:
Selbstoptimierung durch Wissen im klassischen Athen
Nebelin behandelt den geistig-intellektuellen Prozess der Selbstoptimierung. Die Vorstellung, dass man beständig an sich arbeiten müsse, um die eigene Vortrefflichkeit auszubilden und zum Ausdruck zu bringen, war bereits Teil des archaischen Elitenideals gewesen. Intellektuelle Qualitäten hatten dabei aber zunächst keine zentrale Rolle gespielt. Dies änderte sich erst seit dem Auftreten der Sophisten im fünften Jahrhundert v. Chr. In dieser Zeit brachte Athen ein demokratisches und ein philosophisches Grundmodell der geistig-intellektuellen Selbstoptimierung hervor. Letzteres spaltete sich wiederum in eine Vielzahl unterschiedlicher Varianten auf. Gemeinsam war allen ihre elitäre Ausrichtung: Selbstoptimierung sollte durch individuelles Leistungsstreben erreicht werden. Unterschiede bestanden vor allem in zwei zentralen Punkten: der Reichweite der jeweiligen Konzeption und ihrem Verhältnis zu gängigen gesellschaftlichen Wertvorstellungen. So erhielt der demokratischen Ideologie zufolge jeder Bürger die Chance, sich zu entfalten, zu bewähren und Ruhm für seine Taten zu ernten – unabhängig von seiner sozialen Herkunft oder seinem Vermögen. Philosophische Selbstoptimierungskonzepte richteten sich dagegen meist an exklusivere, enger begrenzte Personengruppen. Oft beruhten sie zudem auf einer bewussten Abwendung von gesellschaftlichen Wertvorstellungen. Die für die demokratische Selbstoptimierung zentrale Anerkennung durch Andere spielte dabei häufig nur eine untergeordnete Rolle. Einige Denker vertraten jedoch Vortrefflichkeitskonzeptionen, die mit demokratischen Wertvorstellungen leichter zu vereinbaren waren. So verbanden u.a. die Sophisten die Selbstoptimierung durch rhetorisches Training mit einem Gemeinschaftsbezug. Dies wirft die Frage nach der wissenssoziologischen Konstitution Athens auf: Konnten philosophische Vortrefflichkeitsvorstellungen und die von den Philosophenschulen offerierte Bildung einen positiven Beitrag zur ‚bürgerlichen‘ Selbstoptimierung innerhalb der Demokratie leisten, oder standen sie der politischen Ordnung reserviert gegenüber?
Martin Dreher, Magdeburg:
Synopsis
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21.09.2016
Religion – eine umstrittene Kategorie
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